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Rückblick auf den 4. Deutschen Fußverkehrskongress in Bremen: Gehen – so selbstverständlich, dass keiner drüber redet.

Um neue Erkenntnisse zur Rolle und Ansätze zur Stärkung des Fußverkehrs zu gewinnen, wurde mit Förderung des Bundesverkehrsministeriums in Bremen der 4. Deutsche Fußverkehrskongress am 18. und 19. April 2023 ausgerichtet. Mit über 419 Teilnehmenden wurde ein Rekord aufgestellt. Die Tagung mit dem Motto „Fußverkehr – ohne geht nichts“ hatte 85 Referierende und 16 thematische Foren zum intensiven fachlichen Austausch. Dazu kamen 10 ‚Walkshops‘ als fachliche Exkursionen im Stadtgebiet Bremen.

Bereits der Weg zum CongressCentrum Bremen war für die über Teilnehmenden aus Verwaltung, Forschung, Verbänden und Politik deutlich gekennzeichnet und bot mit Spiel- und Frageparcours einen auf anderen Wegen abhanden gekommenen Abwechslungsreichtum. Gleichzeitig konnte ausprobiert werden, wie sich Wege für Menschen mit Behinderung gestalten.

Fußverkehr ist statistisch unzureichend erfasst

Geht’s noch? Wie geht’s Dir? Wollen wir miteinander gehen? - das Gehen scheint allgegenwärtig – zumindest in Alltagssprache. Und obwohl das Gehen auch als Fortbewegungsart eine große Rolle spielt, war es lange nur eine Restgröße in Forschung, Planung und Politik.

„Bremen ist bekannt als Fahrradstadt. Bremen ist auch Stadt des Fußverkehrs“, so Dr. Maike Schaefer, gastgebende Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau, denn der Fußverkehrsanteil ist in Bremen mit 25 % sogar noch etwas größer als der Radverkehrsanteil. Dabei ist in diesen Zahlen noch nicht erfasst, dass 94 % der Wege zu den Haltestellen des ÖPNV zu Fuß zurückgelegt werden und auch sonst jeder Weg mit einem Fußweg beginnt und endet – auch der zum Pkw.

Auch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sieht das Potenzial des Fußverkehrs und hat die Konferenz gefördert. Guido Zielke, Leiter der Abteilung Straßenverkehr im Bundesverkehrsministerium in der Podiumsdiskussion zum Auftakt der Tagung betonte, dass der Modal Split des Fußverkehrs in Großstädten erheblichen Anteil hat – mehr als viele Leute sich denken. Für das Bundesverkehrsministerium sei dieser Kongress wichtig, damit der Fußverkehr gesellschaftspolitisch ernstgenommen wird. Dies bekräftigte er mit der Ankündigung, eine Fußverkehrsstrategie auf Bundesebene im Sommer zu veröffentlichen.

Bereits im Auftakt des Fußverkehrskongresses wurde der Konflikt um den Straßenraum angesprochen, der sich vielfach mit dem aufgesetzten Parken ergibt. Es bestand Einigkeit auf dem Podium, dass Autos nicht auf den Gehweg gehören. Senatorin Dr. Maike Schaefer: „Es geht auch um Verkehrssicherheit, um Barrierefreiheit und um Rettungssicherheit“. Guido Zielke wies zudem darauf hin, dass seitens des Bundes die Höhe der Bußgelder für illegales Gehwegparken angehoben worden sind.

Druckknopfampeln – beim Autoverkehr undenkbar

Stefan Bendiks vom Architekturbüro Artgineering in Brüssel/Graz zeigte mit anschaulichen Beispielen, wie Verkehrsräumen zu auch allgemein nutzbaren öffentlichen Räumen verwandelt werden können. Studien zeigen, wie mit der Stärke des Autoverkehrs die sozialen Interaktionen im Straßenraum abnehmen. Sicherheit, ausreichende Fläche und Ästhetik beeinflussen die Nutzbarkeit von Straßen. „Genug Platz hilft beim Verzeihen, wenn sich Leute nicht an die Regeln halten“. Fuß- und Radverkehr sollten eher nicht auf einer Fläche kombiniert werden - wenn überhaupt, dann Rad- und verlangsamter Autoverkehr. „30 ist das neue 50 in den Niederlanden“, hier nimmt Bendiks auch Bezug auf die aktuelle Debatte in Deutschland. Straßenraumgestaltung bestimmt in starkem Maß das Verkehrsverhalten. „Wer will, dass sich Leute wie in einer Kirche verhalten, soll eine Kirche bauen und keine Diskothek“.

Die heute noch immer an vielen Stellen vorhandenen Druckknopfampeln für den Fußverkehr sind ein Beispiel der Privilegierung des Autoverkehrs. „Stellen Sie sich vor, wir würden von Autofahrenden das gleiche erwarten - dass dort erst ein Knopf gedrückt werden muss“. In den Niederlanden gibt es Ampeln mit Regensensoren, da gibt es bei schlechtem Wetter schnelleres Grün für Rad- und Fußverkehr.

Dr. Jürgen Gerlach von der Bergischen Universität Wuppertal zeigte, wie seitens der Forschungsgesellschaft Straßenverkehr (FGSV) die technischen Regelwerke der Straßenplanung derzeit eine Umstellung auf Klimaschutz und Klimafolgenanpassung erfahren. Starkregen und Hitzeinseln sind ein wachsendes Problem, mit dem umgegangen werden muss. So kann Autoparken bis zu 15 °C zusätzliche Temperaturen im Straßenraum erzeugen. Künftig müssen bei Straßenplanungen und Ampelschaltungen sowohl Klimaschutzziele als auch Fuß- und Radverkehr stärker berücksichtigt werden – auch wenn Fahrtzeitverlängerungen für den Autoverkehr entstehen.

Stuttgart duldet kein aufgesetztes Gehwegparken mehr

Das Verkehrsministerium des Landes Baden-Württemberg arbeitet an dem Ziel, mit einem Verkehrsanteil von 30 % in 2030 eine deutliche Stärkung des Fußverkehrs zu erreichen. Zur Umsetzung dient ein Bündel von Maßnahmen – von Umgestaltungen bis zu Öffentlichkeitsarbeit oder auch einer Intensivierung der Verkehrsüberwachung zur Einhaltung der geltenden Verkehrsregeln. Mit einem „Erlass zur Überwachung und Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten im ruhenden Verkehr“ fordert das Ministerium seit Mai 2020 die für Verkehrsüberwachung zuständigen Behörden auf, Sanktionsmöglichkeiten auszuschöpfen, Untätigkeit wäre ermessensfehlerhaft. Susanne Scherz, für Verkehrsüberwachung zuständige Amtsleiterin in Stuttgart, freut sich über die Amtshilfe: „Gehwegparken dulden wir in Stuttgart schon seit Jahren nicht mehr“.

„Charakter und Qualität des Stadtraumes beeinflusst den Fußverkehr messbar“

Prof. Dr. Helge Hillnhütter von der Norwegischen Nationalen Technischen Universität (NTNU) hat untersucht, wie unterschiedlich Fußwege und Entfernungen empfunden werden. Gleiche räumliche Distanzen werden je nach Art und Gestaltung der Straßenräume in der Zeitwahrnehmung bis zu 30 % länger wahrgenommen. Neben einer guten Infrastruktur für den Fußverkehr sind daher das städtebauliche Umfeld, belebte Erdgeschosszonen, Begrünung und Sicherheitsgefühl ebenso wichtig wie der „menschliche Maßstab“.

„Kein ÖPNV ohne Fußgänger“ – die Gehwegqualität beeinflusst die Erreichbarkeit und Akzeptanz des ÖPNV und kann für mehr Fahrgäste sorgen, ohne direkt in den ÖPNV investiert zu haben. Eine Studie zeigt, dass in fußverkehrsfreundlicher Umgebung längere Wege zum ÖPNV zurückgelegt werden als in autofreundlicher, eintöniger Umgebung. Dies führt dazu, dass dreimal mehr potenzielle Fahrgäste erreicht werden können – ein Potenzial, das die Verkehrsbetriebe oftmals noch nicht entdeckt haben.

Zum Abschluss der Tagung haben Bronwen Thornton, Leiterin der internationalen Organisation „Walk21“ und Robert Thaler vom österreichischen Mobilitätsministerium noch einen Blick über die Grenzen erlaubt.

Unter dem Ansatz ,,make it nice, make it comfortable, make it easy” („mach es schön, mach es bequem, mach es leicht“) lassen sich auf allen Kontinenten gute Beispiele für Fußverkehrsförderung unter verschiedenen Randbedingungen finden, wie zum Beispiel die Prioritätensetzung bei dem Winterdienst in Helsinki zugunsten von Fuß- und Radwegen bis zum Ersetzen einer schwer zu überquerenden Fußgängerbrücke in Mexiko durch eine auch für Menschen mit Behinderung nutzbare ebenerdigen Querung. Als „Akupunkturmaßnahmen für das Gehen“ können auch kleine Maßnahmen große Wirkung entfalten, insbesondere, wenn einzelne Barrieren in den Fußwegenetzen beseitigt werden.

Die Alpenrepublik Österreich ist auch auf nationaler Ebene schon seit Jahren Vorreiter klimafreundlicher Mobilität und Fußverkehrsförderung. Bereits 2015 wurde der erste ‚Nationale Masterplan Gehen‘ durch das Verkehrsministerium aufgelegt – und aktuell mit dem ‚Masterplan Gehen 2030‘ fortgeschrieben. Mit einem Förderprogramm mit 50 Maßnahmen sollen konkrete Ziele bis 2030 erreicht werden, so auch ein Fußverkehrsanteil von 20 %. Das Regierungsprogramm der österreichischen Bundesregierung hat ein eigenes Kapitel „Radpaket und Zufußgehen Offensive für aktive, sanfte Mobilität“ als wesentlicher Beitrag zum Ziel der Klimaneutralität 2040.

Fußverkehrsdemo: gemeinsam auf die Straße

Es war ein Ziel der Konferenz, nicht nur im Konferenzsaal den Austausch zu suchen, sondern auch sprichwörtlich auf die Straße zu gehen. Die über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fußverkehrskongresses wurden Teil einer Demonstration, die – begleitet von Sambaklängen – vom CongressCentrum Bremen über fast 4 Kilometer durch das Stadtgebiet zur Abschlusskundgebung in der Innenstadt führte. „Endlich genug Platz zum Nebeneinandergehen“ – so die Empfindung einer Demonstrationsteilnehmerin.

☆ Einige Bilder dieser Bildleiste enthalten Bildnachweise. Die Bildnachweise für die entsprechenden Bilder finden Sie dann im Alternativtext und der Bildbeschreibung des jeweiligen Bildes.

Bremen tritt der internationalen Charta für das Gehen bei

Die internationale Charta für das Gehen betont den Wert des Gehens als einen Schlüsselindikator für gesunde, leistungsfähige, sozial einbeziehende und nachhaltige Städte und Dörfer. Bereits über 500 Städte und Gemeinden haben weltweit die Charta gezeichnet. Aus Anlass des Nationalen Fußverkehrskongress hat Senatorin Maike Schaefer auch für Bremen die Charta unterzeichnet. „Wir wollen Teil dieser Bewegung sein und daran mitwirken“ betonte Staatsrat Enno Nottelmann bei der Übergabe der Urkunde an die Vorsitzende von Walk21, Bronwen Thornton. Bremen will nicht nur Fahrradstadt sein, sondern aktive Mobilität gezielt fördern.